Pandan Island, 11. Februar 2020
Liebe Philippinen
Es tut mir leid. Wir waren ungnädig mit dir, hatten deine weiche betörende Seite lange Zeit übersehen. Deinen Charme, deinen relaxten Umgang
mit Normen, deine umwerfende Natur. Vielen Dank dafür, dass du uns die letzten acht Tage hier auf Pandan Island endlich die Augen geöffnet hast. Oder haben einfach wir auf einmal wieder gelernt,
scharf zu sehen?
Das Gefühl, endlich angekommen zu sein, hängt zu einem grossen Teil mit unserem Besuch aus der Schweiz zusammen, das ist unbestreitbar. Wie schön, dass wir uns auf der Tropeninsel plötzlich wie zu Hause fühlen – bei den gemeinsamen Essen, den Sundowner-Apéros und den Vollmond-Diskussionen am menschenleeren weissen Strand haben Heimweh-Empfindungen ihre Spitzen gebrochen bekommen, haben Kraft und Mut für die nächsten zwei Monate getankt werden können.
Wir spazieren auf Pandan barfuss den blumengesäumten Sandweg zum Restaurant des gleichnamigen Resorts, lassen die fünf Kinder stundenlang für sich spielen, bis sie glücklich "Wir wollen ins Meer!" schreien und vertiefen uns schnorchelnd ins Türkisblau des fischreichen Wassers. Wir machen Nightdives. Wir finden Bücher von Haruki Murakami in der Resortbibliothek (Mister Ausfziehvogel). Wir bangen mit dem Hühnchen im Pythonkäfig (es wurde bisher nicht gefressen). Wir erfahren von personellen Spannungen zwischen den Inselbesitzern. Wir gehen unseren Gedanken nach, lassen die Tage ziehen wie die Wolken, welche sich über der Bergkette von Mindoro in gewaltigen Formationen abzeichnen und plötzlich verschwinden. Wir lernen neue Kartenspiele. Babs fährt zum Apo-Reef. Wir geniessen das allabendliche Buffet und die frischen Kokosnüsse.
Wir merken, wie die Zeit vergeht und wir nichts dagegen tun können. Dem Abschied von Pandan sehen wir traurig entgegen – voller Freude darüber, die prächtigen Tage hier erlebt zu haben.
Euch, liebe Melä, lieber Jo, liebe F. und lieber R., danken wir für die wunderbare, entspannte und spannende gemeinsame Zeit; es war unglaublich schön und wichtig für uns. Wir wünschen euch bei der Weiterreise nach Coron alles Gute und unvergessliche Erfahrungen - wir im Gegenzug werden euer Mitbringsel aus der Schweiz in Erinnerung behalten: Zwei Packungen Gruyère!!! Unglaublich. Wahnsinnig fein.
Von den Grosseltern hat es neuen Lesestoff für alle gegeben; Taschenlampen, Leckereien, Briefe und eine neue Kreditkarte aus der Heimat (Ersatz für den Verlust in Laos) – vielen herzlichen Dank an euch!
Unser Weg führt nach fünf Wochen Philippinen am 14. Februar via Bali und Lombok (12 Tage) nach Australien. Auf dem Rückweg werden wir einen mehrtägigen Stopp in Sumatra einlegen, wo der Besuch des Gunung-Leuser Nationalparks als Abschluss-Highlight geplant ist.
Die letzten zwei Monate stehen an. Den Ausblick auf diese Zeit geniessen wir und nehmen uns nochmals ganz viele Sachen vor: (noch mehr) Bücher lesen, Texte und Briefe schreiben, mit Lisa die Masse und Rechtschreibung üben, joggen, einen Kochkurs besuchen, eine Blattschrecke finden, den Gunung Rinjani besteigen (oder von unten her betrachten), ein Känguru füttern, einen richtigen Cappuccino trinken, die 'Liste der Dinge, welche unsere nächsten fünf Jahre einzigartig machen werden' vervollständigen, auf einem Felsen stehen und die Arme ausstrecken, mit den Kindern das Camperleben erlernen, mit 120 Km/h durch das Outback fahren und dazu in voller Lautstärke 'Like a Prayer' hören, die Sommerferien in Frankreich planen;-), uns auf das 'Leben danach' einstellen, u.v.v.m.
Wir werden wohl noch zwei oder drei Einträge veröffentlichen, den nächsten wird es frühestens Anfang März geben. Über eure Mails, die Whatsapp-Nachrichten und die Gästebucheinträge freuen wir uns immer sehr - danke dafür!
Gerne teilen wir an dieser Stelle ein paar fotographische Eindrücke der letzten Tage und Wochen:
Carbon Market, Cebu City
Malapascua, 25. Januar 2020
Die Philippinen haben uns in Cebu City mit fauligem Atem empfangen. Ankunft während der Rush-Hour, überall Autos, Motorräder, Szenen wie gewohnt in asiatischen Städten, viel zu viele Menschen, Schmutz, Gestank, bettelnde Kinder, dazwischen ein paar weisse Touristen, vielfach männlich, vielfach mit einer Filippina am Arm. Unsere Airbnb-Absteige im 24. Stockwerk eines Hochhauses, das den letzten Taifun nur mit Müh und Not überstanden hat, erweist sich als Fehlgriff; Uringestank in den Zimmern, Kakerlaken überall, das Besteck in der Schublade gebraucht, mit eingetrocknetem Schmutz verräumt! Die Fliesen zerbrochen, unter dem Bett Kondompackungen, Haare, alles schlicht grauenhaft.
Wo essen? Es gibt einen verdreckten Starbucks, am Boden Servietten, Staubknäuel, vor dem sich verlumpte Gestalten tummeln, es gibt Fastfood-Ketten in lausigen überfüllten Shoppingmalls, es gibt Fleisch in jedem Gericht, frittiertes Schwein, Huhn, Rind. Gemüse nur als verkochte geschmacklose Beilage mit pampigem Reis. Ab zu MC Donalds!
Die Menschen sind ausgesprochen freundlich, hilfsbereit. Sprechen gutes Englisch.
Aus Cebu sind wir nach zwei Nächten Richtung Bohol geflüchtet. Neue Insel, gleiche Probleme: Tagbilaran, die Hauptstadt, verstopft und schmutzig. Tricycle-Fahrt nach Panglao, Ferienparadies. Wir spüren nichts, die Palmen machen keine Freude, es gibt nirgendwo etwas annähernd gutes zu Essen, zum Frühstück rote Würstchen mit blossem weichem Reis und angerührten Zuckersaft, die Zimmer sind überteuert, im Meer tausende von Seeigeln, keine Fische.
Die Kinder spielen im Sand.
Nach zwei Nächten ein weiterer Annäherungsversuch: Pamilacan, kleine Insel am gefühlten Ende der Welt, südlich von Bohol. Endlich Authentizität, kleine Bambushütte für uns alle bei einer einheimischen Familie, das Essen wird schlagartig besser; schmackhaftes Gemüse, Fisch, Poulet, Reis. Pancakes zum Frühstück. Andere Backpacker schwärmen, kommen nicht mehr los von dieser Insel. Wir sind gedanklich woanders.
Das Meer hat eine schöne Farbe, Schildkröten schwimmen zu Hauf am trüben Riff, man sieht Fische, Seesterne. Wir kommen nicht recht in Fahrt. Lisa versinkt in Büchern, Tim bekommt Fieber, Anouk zeichnet Briefe an Freunde und Grosseltern in der Schweiz. Babs liest die 12-App und joggt, ich zeichne ein wenig, surfe im Netz, flüchte in Tagträumereien (sie handeln meistens von meinem Leben zu Hause). Wir sind satt, können keine Bilder mehr aufnehmen, Speicherkarte voll, keine Lust auf Konversation mit fremden Menschen; die Kinder mögen sich kaum mehr auf die einheimische Schar lachender Kids einlassen, welche sich am Abend am Strand zusammenfindet. Anouk winkt professionell, wenn ihr Leute vom Wegrand zurufen.
Haben wir nicht in Indonesien all das bereits wochenlang erlebt? Nur war da der Strand vermeintlich schöner, die Riffe lebten, wir waren neugierig und genossen die Tropen, das Wegsein, das Freisein. Was machen wir eigentlich hier? Wie kommen wir aus dieser Stimmung wieder raus? Familienkonferenz. Nach zwei Tagen geht’s besser. Uns Erwachsenen hilft die Aussicht auf das Eintreffen von M. & J. mit ihren Twins, die Familie, mit welcher wir zehn Tage Reiseleben teilen werden. Vorfreude auch auf Australien. Den Kids hilft die Ruhe auf der Insel, Muscheln sammeln, Zeit ohne Programm, Schnorcheln mit Schildkröten, Paracetamol und einige Sprachnachrichten aus der Schweiz.
Abschied von Pamilacan. Zurück nach Bohol, Unterkunft am wunderschönen Loboc-Fluss. Rundfahrt, Chocolat Hills, Zip-Lines, Bambusbrücke, Glühwürmchen-Zauber. Drei Nächte. Täglich Bananensplit mit heisser Schokolade.
Und danach? Wir beschliessen, nach Anda zu fahren, Ostzipfel der Insel. Drei Nächte Swimmingpool, Resort und teures, schlechtes Essen. Unglaublich schöne Natur, eine niedliche Strasse führt ins beschauliche Städtchen, Bougainvilleen und Liguster, die Menschen lachen, es geht ihnen gut hier, denken wir. Die Kellnerin im 'Flower Beach Resort' arbeitet von 07.00 morgens bis 10.00 Uhr abends, wird jedoch nur für 8 Stunden bezahlt. Wir geben viel Trinkgeld. Das Resort gehört Werner und seiner Filippina. Unterhaltung mit zwei Touristen aus Norddeutschland nach dem Essen. Man versteht sich. Dann das Thema Klima. „Es hat doch eigentlich immer so Schwankungen gegeben, na? Kann eigentlich niemand beweisen, dass die Erwärmung durch den Menschen hervorgerufen wird, na?“ Babs diskutiert, ich werde wütend. Wir treffen immer wieder Menschen mit anderen Ansichten und Einstellungen. Es erschreckt mich, wie sehr es mich erschreckt, solche Menschen zu treffen. Ich kann nicht immer souverän damit umgehen, dass jemand in meine Bubble sticht. Babs ist besser darin, ambiguitätstoleranter.
Ein alter Mann fragt mich spöttisch, auf Lisa, Tim und Anouk zeigend: „Only one boy?“. Ich bin verärgert, mag nicht mehr Kulturvermittlung machen, werde misanthropisch. Die Menschen hier haben acht, fünf, vier, sieben Kinder (hoffentlich viele Knaben!). Weil Gott das angeblich gut findet. Weil der Papst sagt, ‚vermehret euch‘, so steht es in der Bibel, weil man keine Kondome benutzen soll, weil ein Leben in Armut besser ist als ein lasterhaftes Leben. Scheisskatholizismus, denke ich. Bei den Muslimen in Indonesien war es nicht anders. Überall Kinder, jede Frau über fünfzehn ist schwanger (totale Übertreibung natürlich). Ich wünsche mir bissig die alleinige Weltherrschaft.
Ohrstöpsel rein, eins zwei, Off-Beat, entspannen. Ein wenig Rückzug. Zaz und L‘Entourloop auf Repeat, ab und zu ein Anakonda, ein Kuno, ein Büne. Klänge gegen das Fremdsein; Fensterplatz im Localbus, Palmen ziehen vorbei. Die Ramschläden, Mini-Shops, aus Holz gezimmerte Wellblechbuden, Existenzen auf Sparflamme, Kinder und Hunde im Staub des Strassenrands. Ich bin nur Betrachter, kann mich schlecht abgrenzen, die Verzweiflung kaum abschütteln, denke mich nach Europa, fühle mich schuldig und fürchte die Arroganz meines Urteilens, meiner Sichtweise, meines trägen Mitleids.
Vier Stunden Fahrt, die Kinder haben genug, danach noch zwei Stunden mit dem Boot zurück nach Cebu City. Zum Glück läuft ein Disney, die Kinder verstehen zwar nichts, stehen aber die Fahrt durch.
Spazieren durch farbenfrohe Seitenstrassen; die Stadt hat doch noch ein anderes Gesicht. Teuer essen beim Italiener, Tiramisu aufs Haus. Alle sind müde.
Am nächsten Tag Taxifahrt nach Maya, wieder vier Stunden, interessante Gespräche mit dem Fahrer (fünf Kinder). Vierzig Minuten Boot nach Malapascua, ‚Little Boracay‘ genannt. Hütte am Bounty Beach, türkisblaues Wasser, Auslegerboote, chinesische, koreanische, europäische und amerikanische Tauchtouristen.
Wir wollen sie auch sehen, die Fuchshaie, die es hier gibt (am Montag wird es soweit sein)! Vorerst vor allem Strandhunde, räudige stinkende Biester, einer kotzt in
der Nacht auf unsere Veranda, massenhaft Schmeissfliegen, Palmen, leider keinen Cappuccino, die Maschine ist kaputt, Antibiotika für Tim, er hat schon wieder Mittelohrentzündung. Gestern haben
wir den charmanten Nachtmarkt entdeckt. Frisches gutes Essen, Grillspiesse, Fisch in der Auslage, aber auch Maiskolben, Nudeln, Gemüse! Bruno aus Zug erzählt uns bei Bier und Rum sein wildes
Leben zwischen Kolumbien und Asien. Riesenraupen auf Büschen, Flughunde, Musik. Joggen durch das Fischerdorf. Ah, wunderbar, plötzlich schaudert es mich, ein Flash, ich liebe alles, den Schmutz,
die Hitze, die Leute, die velofahrenden Kinder, die aufgeschichteten Mangos und Bananen, die angeketteten stolzen Hähne, die trinkenden Männer auf den Plasticstühlen, die mir zuprosten, ich
lächle zurück, dieses Dasein im Provisorium, all das ist grad gut, ist spürbar, bewegt mich.
In diesem Moment weiss ich; das Fernweh wird zurückkommen.
Lisa hat Geburtstag, es geht ihr sehr gut. Anouk schüttelt ihr Heimweh beim Schokoladen-Pancake ab, Tim lernt Buchstaben und übt sich im Schwertkampf mit Bäumen und Sträuchern. Morgen Schnorchelausflug um die Insel.
Wir haben es gut als Familie, wir leiden zwischendurch alle etwas. Wir haben alle gelernt und lernen täglich. Und die Zeit vergeht, sie rast, schon bald heisst es wieder; Rucksack packen, Abschied nehmen, weiter ziehen, ankommen. Das Glück suchen.
Es bleiben noch zehn Wochen.
Anstelle einer Foto-Gallerie hier der Video-Zusammenschnitt:
Text von Lisa, 10. Januar, Cebu City: